Samstag, 29. April 2017

Brief an Y


                
Liebe Y,
eben habe ich vor lauter Aufregung völlig vergessen, Dir von meinem heutigen Erlebnis zu erzählen. Ich werde dieses Abenteuer aufschreiben und Dir schicken, so dass Du es bei einem Gläschen Rotwein lesen kannst, sobald Du aus Madeira zurückgekehrt sein wirst.

Am Morgen fuhr ich also mit dem Rad los, um im Grenzwald nach dem Rechten zu sehen; Früher war hier alles ein riesiges Sumpfgebiet, die Menschen hausten in den Rodungen, die sie mühevoll dem Wald abgerungen hatten.

Tief im Brachter Wald gibt es eine alte verwunschene Stelle, um die sich folgende Legende rankt, mit der wir Kinder hier aufgewachsen sind: Dort soll sich in alten Tagen das Gut Amersloh befunden haben. Als vor hunderten von Jahren brandschatzende Söldnertruppen vorüber zogen, schafften es die Bewohner, eine Truhe mit ihrem vollständigen Besitze, Golddukaten, Schmuck, und ihrer Hausbibel, irgendwo dort hinten zu vergraben, bevor die Mörder alle töteten, und das Gebäude nieder brannten.
Danach wurde dort, so abgelegen im finsteren Wald, nicht mehr gesiedelt, die Mauern dienten als gelegentlicher Steinbruch dies- und jenseits der Grenze.
In späteren Zeiten ließen die Umwälzungen der Tonindustrie und immer wieder durch Kriege die Erinnerung an das Gut Amersloh verblassen, und im kollektiven Gedächtnis der Menschen verschwomm alles zu einem Geschichtsbrei.
Heute ist nicht mehr ein einziger Stein an dieser Stelle zu finden, alles ist von Gestrüpp überwuchert, eine zerklüftete Gegend, nahe der alten römischen Strasse.
Doch das Volk erzählt sich Geschichten vom versunkenen Schloss, und einer weißen Rose, die dort alle Jahre zu Pfingsten erblüht, und zwar an –richtig- ebenjener Stelle, wo der Schatz vergraben liegt, und darauf wartet, von einem wackeren Helden, der sich hierhin traut, gehoben zu werden.

Dorthin also fuhr ich.
Ich tauchte ein in den dichten Wald, schummriges Grün umgab mich, und es duftete nach Moos und Feuchtigkeit. Keine Sonne schien.
Ein Kuckuck begrüßte mich, auch Rehe und Wildschweine waren neugierig, wer da ihr verwunschenes Reich besuche.

Die geheimnisvolle Stelle kannte ich nur ungefähr aus alten Karten, die ich mir vorher besorgt hatte. Ich parkte meinen Drahtesel, und irrte zu Fuß durchs Dickicht. Zum Glück traf ich einen seltsamen Waldarbeiter, der dort Holz schichtete. Der wusste prompt von der Sage, hilfsbereit und mit Sicherheit auch selber neugierig ging er sofort mit mir.
Mit seinem Beil zerschlug er die Brombeerranken, zu zweit irrten wir nun durch den Wald, nur umgeben von der Sinfonie der wilden Vögel, die uns ein freudiges Willkommensständchen pfiffen, sowie seltsamen, undefinierbaren Urtönen aus der Tiefe der Erde, die mein Begleiter allerdings wohl nicht vernahm; jedenfalls konnte ich ihm das in keiner Weise anmerken. Oder er war an diese Geräuschkulisse gewöhnt, da er sich ihr täglich auslieferte.
In diesem Moment, wo ich diese Zeilen schreibe, kann ich immer noch nicht sagen, nach überstandenem Schrecken, woher diese unheimlichen Geräusche drangen. Sie klangen, als ob von unter der Erde riesige Schaufelradbagger sich langsam, aber kraftvoll gegen das Licht fortgruben.

Knacken im Unterholz. Ab und an blitzte im Schatten ein fremdes Augenpaar auf, von irgendwelchen scheuen Tieren.
Oder verwunschenen Gestalten?
Gnome? Hexen? Meine Phantasie malte mir ein lebhaftes Bild einer gewaltigen Gegenwelt, die uns Menschen gemeinhin verschlossen blieb, aber soeben durch puren Zufall enthüllt worden sei.
Wir kämpften uns gemeinsam immer weiter einen Weg frei, bis wir – nenne uns Helden der Orientierung, aber lache nicht dabei! – irgendwann wieder am Traktor des Waldarbeiters ankamen, völlig zerfetzte Hosenbeine, voller Dornen und Zecken, und ein paar böseartige Hautabschürfungen.

Irgendwie wollte der Mann an meiner Seite es jetzt aber erst recht und ganz genau wissen.
Zufällig – oder wie vom Himmel eingegeben? – fiel uns zeitgleich Toto ein, ein offenbares Original, das jeder in der Gegend kannte: Der war so eine Art Waldschrat, von Aussehen eine lebende Leiche, blasse Haut, lange, wirre Haare, harte Drogen,...aber stets freundlich zu jedermann und –frau.
In seiner selbst gezimmerten Hütte hauste er am Waldesrand.
Wir tuckerten also zu ihm.
 Weißt Du, Toto streunerte Tag und Nacht durch den Wald, bald diesseits der Grenze, bald drüben, um den vielen Jägern Fallen zu stellen. Er war nämlich der Meinung, daß es Unrecht sei, sich vom Fleisch der Tiere, seiner Freunde, zu ernähren – das sei Leichenschändung und Aas.
Dabei wendete er niemals Gewalt an, sondern bescherte den Grünröcken unvergessliche Erlebnisse, indem er sie an der Nase herumführte, oder legendäre Streiche spielte, wie zum Beispiel, als er einem eingenicktem Kameraden auf dem Hochsitz vorsichtig und unnahbar Kuhdung unter die Röcke schmierte.
Man munkelte, er ernähre sich von Birkenrinde, Pilzen, und Regenwasser, was die Natur ihm anbiete.

Toto fragten wir also, ob er die Stelle kenne, wo einst, in alten Tagen, das Gut Amersloh existiert habe, Karl-Heinz, wie sich der Waldarbeiter mir inzwischen vorgestellt hatte, und ich.

„Klar. Für 5 Euro und ein paar Kartoffeln zeige ich Euch das.“

Zu dritt tuckerten wir über holprige Waldwege zurück, bis an einer gewissen Stelle eine Art Schlucht rechts vom Weg abging.
Dort stand eine uralte Buche, und zwar eine der Sorte, die wir als Kinder „Knochenbäume“ nannten.
Toto klopfte Karl-Heinz auf die Schulter: „Hier!“-

Diese Schlucht aber war durchsetzt von Tümpeln und Morast; Karl-Heinz, den ich bisher eigentlich als sehr selbstsicher und gewandt erlebt hatte, stolperte, und fiel prompt in eines dieser dunklen Mäuler.
Mit einem Bein sank er fast bis zum Gesäß ein, aber ich konnte ihn herausziehen, ein schmatzendes „Flop“ erzeugend.
Allerdings – einer seiner modischen Gummistiefel blieb leider dort unten stecken.
Mit Ästen stocherten wir im Schlamm, aber der Stiefel ward nicht mehr gesehen.
Verschwunden wie das Schloss, aufgesogen vom Schlund der Erde.

Nun gut, dem Armen blieb nichts anderes übrig, als einfüssig barfuss weiterzuhumpeln.
Toto erwies sich als erstaunlich zäh, obwohl er so abgemagert aussah.
Wir mussten indessen über einen überdimensionalen umgestürzten Baum klettern, der wie eine Schranke diese Schlucht quer absperrte – als ob an dieser Stelle ein neues Königreich beginne.

Dann blieb Karl-Heinz, der alte Pechvogel, mit seinem Beil auch noch irgendwo hängen, und auch das Beil haben wir merkwürdigerweise nicht wieder gefunden, obwohl wir zu dritt alles ringsum ordentlich abgesucht haben.
Nun gut.
Ich schlucke noch jetzt, wo ich das schreibe.

Diese enge Schlucht führte krumm und gewunden immer weiter geradeaus.
Karl-Heinz fluchte ganz leise.
Ich blutete, seit ich auf einem moosbewachsenen Stein ausgerutscht war.
Dabei brach unerklärlicherweise sogar der Stein durch.
Darunter begraben offenbarte sich uns das Skelett eines Tieres in der Größe eines Dachses mit 2 (!) Köpfen.
Wieso 2 Schädel, aber nur ein Körper?
Warum wohl und wie mögen die armen Tiere vom Stein erschlagen und begraben worden sein?
Hat vielleicht ein Mensch das Tier in abgesonderten Riten beerdigt?
Wenn ja, wann, und warum?
Das Abenteuer in dieser Abgeschiedenheit schien bedrohlich zu werden...

Jedenfalls waren wir alle 3 sehr sicher, dass hier, an dieser Stelle, seit dieser Beerdigung kein Mensch mehr gewesen sein konnte.
Keine erkennbare Spur von irgendwem, alles verwildert, überwuchert, durchwachsen.

Nun, um es kurz zu machen:
Wir waren danach noch mehrere Stunden unterwegs, nunmehr etwas angekratzte Helden auf Schatzsuche.
Zumindest wollten wir ja irgendeine Spur vom versunkenen Gut Amersloh finden.
Mehrmals passierten seltsame Dinge, Toto krachte in ein Loch, das von Laub bedeckt war, und blutete nun ebenfalls, aber so richtig schwerwiegend, weil ein spitzer Ast sich in seine Wade gebohrt hatte.
Karl-Heinz und ich leisteten so gut wie irgend möglich Erste Hilfe, aber definitiv konnte Toto nicht mehr eigenständig laufen.
Karl-Heinz war spürbar aufgeregt. Er atmete jetzt viel schneller als vorher.
Später spuckte Toto dann noch Blut, was aber meiner Meinung nach weniger an der Wunde lag, denn an irgendwelchen inneren Verletzungen.
Ich versuchte irgendwie, beide zu beruhigen.
Toto wurde apathisch, zu viel Blutverlust.
Karl-Heinz stöhnte und japste verzweifelt nach Luft, Schweißperlen auf der Stirn, und tätschelte dennoch die ganze Zeit an Toto herum.

Was tun?

Toto wurde rapide schwächer und röchelte nach einer Weile nur noch, die Augen nach innen verdreht.
Schließlich sagte ich zu Karl-Heinz, er solle mein Hemd in Streifen reißen, im Wasser anfeuchten, und damit dessen Stirn abtupfen, da er inzwischen auch noch vor Fieber glühte – Hauptsache reden, um ihn irgendwie Am Leben zu erhalten.

Mit heldenhaft-lächerlich nacktem Oberkörper rannte ich so schnell wie möglich querfeldein durch den Busch, ohne Schmerz.
Schnell.
Nur schnell zum Fahrrad, Hilfe holen.
Meilenweit keine Menschenseele, nur der sterbende Toto, und Karl-Heinz. In Luftrichtung, immer der Nase und dem Wind nach.

Ich erinnere mich an eine urplötzliche Totenstille im Wald, kein Vogel, kein Tier, keine Seele, kein Niemand. Beiläufig nahm ich diese absolute Ruhe als Stillstand der Zeit wahr.

Irgendwo blieb ich mit dem linken Fuß an einer Wurzel hängen, und fiel selber der Länge nach hin.
Ich schaute auf, und sah – unglaublich! – eine einzelne unschuldige Pfingstrose.

Dort war so eine Art Lichtung, Licht drang dort zwar hin, aber es herrschte eine ganz seltsame Stimmung, ein ganz diffuses Licht, orange, hellgelb, weiß, und rot – feuerfarben; dieser betörende Rosenduft passte schier überhaupt nicht zum feuchten Ambiente.

Einen Moment blieb ich erschöpft dort liegen, als ich mit einer Hand mich zu orientieren suchte, und beim Tasten und blinden Wühlen etwas Rostiges fühlte:
Halb versunken eine kleine, mit Eisen besetzte Holzschatulle.
Ausgerechnet! Die beiden anderen Genossen im Wald dem Ende womöglich recht nah...ein verhängnisvoller Tag...Unglaubwürdig, wirst Du wohl denken...

Zitternd öffnete ich die Truhe: Dort drinnen lagen schockierend ausgebleichte Knochen.

Knochen von dem Bären, den ich Dir gerade aufgebunden habe.

In diesem Sinne sendet Dir herzliche Grüsse

Dein X

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