Liebe Y,
eben habe ich vor
lauter Aufregung völlig vergessen, Dir von meinem heutigen Erlebnis zu
erzählen. Ich werde dieses Abenteuer aufschreiben und Dir schicken, so dass Du
es bei einem Gläschen Rotwein lesen kannst, sobald Du aus Madeira zurückgekehrt
sein wirst.
Am Morgen fuhr ich also
mit dem Rad los, um im Grenzwald nach dem Rechten zu sehen; Früher war hier
alles ein riesiges Sumpfgebiet, die Menschen hausten in den Rodungen, die sie mühevoll
dem Wald abgerungen hatten.
Tief im Brachter
Wald gibt es eine alte verwunschene Stelle, um die sich folgende Legende rankt,
mit der wir Kinder hier aufgewachsen sind: Dort soll sich in alten Tagen das
Gut Amersloh befunden haben. Als vor hunderten von Jahren brandschatzende
Söldnertruppen vorüber zogen, schafften es die Bewohner, eine Truhe mit ihrem
vollständigen Besitze, Golddukaten, Schmuck, und ihrer Hausbibel, irgendwo dort
hinten zu vergraben, bevor die Mörder alle töteten, und das Gebäude nieder
brannten.
Danach wurde dort,
so abgelegen im finsteren Wald, nicht mehr gesiedelt, die Mauern dienten als
gelegentlicher Steinbruch dies- und jenseits der Grenze.
In späteren Zeiten
ließen die Umwälzungen der Tonindustrie und immer wieder durch Kriege die
Erinnerung an das Gut Amersloh verblassen, und im kollektiven Gedächtnis der
Menschen verschwomm alles zu einem Geschichtsbrei.
Heute ist nicht mehr
ein einziger Stein an dieser Stelle zu finden, alles ist von Gestrüpp
überwuchert, eine zerklüftete Gegend, nahe der alten römischen Strasse.
Doch das Volk
erzählt sich Geschichten vom versunkenen Schloss, und einer weißen Rose, die
dort alle Jahre zu Pfingsten erblüht, und zwar an –richtig- ebenjener Stelle,
wo der Schatz vergraben liegt, und darauf wartet, von einem wackeren Helden,
der sich hierhin traut, gehoben zu werden.
Dorthin also fuhr
ich.
Ich tauchte ein in
den dichten Wald, schummriges Grün umgab mich, und es duftete nach Moos und
Feuchtigkeit. Keine Sonne schien.
Ein Kuckuck begrüßte
mich, auch Rehe und Wildschweine waren neugierig, wer da ihr verwunschenes
Reich besuche.
Die geheimnisvolle
Stelle kannte ich nur ungefähr aus alten Karten, die ich mir vorher besorgt
hatte. Ich parkte meinen Drahtesel, und irrte zu Fuß durchs Dickicht. Zum Glück
traf ich einen seltsamen Waldarbeiter, der dort Holz schichtete. Der wusste
prompt von der Sage, hilfsbereit und mit Sicherheit auch selber neugierig ging
er sofort mit mir.
Mit seinem Beil
zerschlug er die Brombeerranken, zu zweit irrten wir nun durch den Wald, nur
umgeben von der Sinfonie der wilden Vögel, die uns ein freudiges
Willkommensständchen pfiffen, sowie seltsamen, undefinierbaren Urtönen aus der
Tiefe der Erde, die mein Begleiter allerdings wohl nicht vernahm; jedenfalls
konnte ich ihm das in keiner Weise anmerken. Oder er war an diese
Geräuschkulisse gewöhnt, da er sich ihr täglich auslieferte.
In diesem Moment, wo
ich diese Zeilen schreibe, kann ich immer noch nicht sagen, nach überstandenem
Schrecken, woher diese unheimlichen Geräusche drangen. Sie klangen, als ob von
unter der Erde riesige Schaufelradbagger sich langsam, aber kraftvoll gegen das
Licht fortgruben.
Knacken im
Unterholz. Ab und an blitzte im Schatten ein fremdes Augenpaar auf, von
irgendwelchen scheuen Tieren.
Oder verwunschenen
Gestalten?
Gnome? Hexen? Meine
Phantasie malte mir ein lebhaftes Bild einer gewaltigen Gegenwelt, die uns
Menschen gemeinhin verschlossen blieb, aber soeben durch puren Zufall enthüllt
worden sei.
Wir kämpften uns
gemeinsam immer weiter einen Weg frei, bis wir – nenne uns Helden der
Orientierung, aber lache nicht dabei! – irgendwann wieder am Traktor des
Waldarbeiters ankamen, völlig zerfetzte Hosenbeine, voller Dornen und Zecken,
und ein paar böseartige Hautabschürfungen.
Irgendwie wollte der
Mann an meiner Seite es jetzt aber erst recht und ganz genau wissen.
Zufällig – oder wie
vom Himmel eingegeben? – fiel uns zeitgleich Toto ein, ein offenbares Original,
das jeder in der Gegend kannte: Der war so eine Art Waldschrat, von Aussehen
eine lebende Leiche, blasse Haut, lange, wirre Haare, harte Drogen,...aber
stets freundlich zu jedermann und –frau.
In seiner selbst
gezimmerten Hütte hauste er am Waldesrand.
Wir tuckerten also
zu ihm.
Weißt Du, Toto streunerte Tag und Nacht durch
den Wald, bald diesseits der Grenze, bald drüben, um den vielen Jägern Fallen
zu stellen. Er war nämlich der Meinung, daß es Unrecht sei, sich vom Fleisch
der Tiere, seiner Freunde, zu ernähren – das sei Leichenschändung und Aas.
Dabei wendete er
niemals Gewalt an, sondern bescherte den Grünröcken unvergessliche Erlebnisse,
indem er sie an der Nase herumführte, oder legendäre Streiche spielte, wie zum
Beispiel, als er einem eingenicktem Kameraden auf dem Hochsitz vorsichtig und
unnahbar Kuhdung unter die Röcke schmierte.
Man munkelte, er ernähre
sich von Birkenrinde, Pilzen, und Regenwasser, was die Natur ihm anbiete.
Toto fragten wir
also, ob er die Stelle kenne, wo einst, in alten Tagen, das Gut Amersloh
existiert habe, Karl-Heinz, wie sich der Waldarbeiter mir inzwischen
vorgestellt hatte, und ich.
„Klar. Für 5 Euro
und ein paar Kartoffeln zeige ich Euch das.“
Zu dritt tuckerten
wir über holprige Waldwege zurück, bis an einer gewissen Stelle eine Art
Schlucht rechts vom Weg abging.
Dort stand eine
uralte Buche, und zwar eine der Sorte, die wir als Kinder „Knochenbäume“
nannten.
Toto klopfte
Karl-Heinz auf die Schulter: „Hier!“-
Diese Schlucht aber
war durchsetzt von Tümpeln und Morast; Karl-Heinz, den ich bisher eigentlich
als sehr selbstsicher und gewandt erlebt hatte, stolperte, und fiel prompt in
eines dieser dunklen Mäuler.
Mit einem Bein sank
er fast bis zum Gesäß ein, aber ich konnte ihn herausziehen, ein schmatzendes
„Flop“ erzeugend.
Allerdings – einer seiner
modischen Gummistiefel blieb leider dort unten stecken.
Mit Ästen stocherten
wir im Schlamm, aber der Stiefel ward nicht mehr gesehen.
Verschwunden wie das
Schloss, aufgesogen vom Schlund der Erde.
Nun gut, dem Armen
blieb nichts anderes übrig, als einfüssig barfuss weiterzuhumpeln.
Toto erwies sich als
erstaunlich zäh, obwohl er so abgemagert aussah.
Wir mussten indessen
über einen überdimensionalen umgestürzten Baum klettern, der wie eine Schranke
diese Schlucht quer absperrte – als ob an dieser Stelle ein neues Königreich
beginne.
Dann blieb
Karl-Heinz, der alte Pechvogel, mit seinem Beil auch noch irgendwo hängen, und
auch das Beil haben wir merkwürdigerweise nicht wieder gefunden, obwohl wir zu
dritt alles ringsum ordentlich abgesucht haben.
Nun gut.
Ich schlucke noch
jetzt, wo ich das schreibe.
Diese enge Schlucht
führte krumm und gewunden immer weiter geradeaus.
Karl-Heinz fluchte
ganz leise.
Ich blutete, seit
ich auf einem moosbewachsenen Stein ausgerutscht war.
Dabei brach
unerklärlicherweise sogar der Stein durch.
Darunter begraben
offenbarte sich uns das Skelett eines Tieres in der Größe eines Dachses mit 2
(!) Köpfen.
Wieso 2 Schädel,
aber nur ein Körper?
Warum wohl und wie
mögen die armen Tiere vom Stein erschlagen und begraben worden sein?
Hat vielleicht ein
Mensch das Tier in abgesonderten Riten beerdigt?
Wenn ja, wann, und
warum?
Das Abenteuer in
dieser Abgeschiedenheit schien bedrohlich zu werden...
Jedenfalls waren wir
alle 3 sehr sicher, dass hier, an dieser Stelle, seit dieser Beerdigung kein
Mensch mehr gewesen sein konnte.
Keine erkennbare
Spur von irgendwem, alles verwildert, überwuchert, durchwachsen.
Nun, um es kurz zu
machen:
Wir waren danach noch
mehrere Stunden unterwegs, nunmehr etwas angekratzte Helden auf Schatzsuche.
Zumindest wollten
wir ja irgendeine Spur vom versunkenen Gut Amersloh finden.
Mehrmals passierten
seltsame Dinge, Toto krachte in ein Loch, das von Laub bedeckt war, und blutete
nun ebenfalls, aber so richtig schwerwiegend, weil ein spitzer Ast sich in
seine Wade gebohrt hatte.
Karl-Heinz und ich
leisteten so gut wie irgend möglich Erste Hilfe, aber definitiv konnte Toto
nicht mehr eigenständig laufen.
Karl-Heinz war
spürbar aufgeregt. Er atmete jetzt viel schneller als vorher.
Später spuckte Toto
dann noch Blut, was aber meiner Meinung nach weniger an der Wunde lag, denn an irgendwelchen
inneren Verletzungen.
Ich versuchte
irgendwie, beide zu beruhigen.
Toto wurde
apathisch, zu viel Blutverlust.
Karl-Heinz stöhnte
und japste verzweifelt nach Luft, Schweißperlen auf der Stirn, und tätschelte
dennoch die ganze Zeit an Toto herum.
Was tun?
Toto wurde rapide
schwächer und röchelte nach einer Weile nur noch, die Augen nach innen verdreht.
Schließlich sagte
ich zu Karl-Heinz, er solle mein Hemd in Streifen reißen, im Wasser anfeuchten,
und damit dessen Stirn abtupfen, da er inzwischen auch noch vor Fieber glühte –
Hauptsache reden, um ihn irgendwie Am Leben zu erhalten.
Mit heldenhaft-lächerlich
nacktem Oberkörper rannte ich so schnell wie möglich querfeldein durch den
Busch, ohne Schmerz.
Schnell.
Nur schnell zum
Fahrrad, Hilfe holen.
Meilenweit keine
Menschenseele, nur der sterbende Toto, und Karl-Heinz. In Luftrichtung, immer
der Nase und dem Wind nach.
Ich erinnere mich an
eine urplötzliche Totenstille im Wald, kein Vogel, kein Tier, keine Seele, kein
Niemand. Beiläufig nahm ich diese absolute Ruhe als Stillstand der Zeit wahr.
Irgendwo blieb ich
mit dem linken Fuß an einer Wurzel hängen, und fiel selber der Länge nach hin.
Ich schaute auf, und
sah – unglaublich! – eine einzelne unschuldige Pfingstrose.
Dort war so eine Art
Lichtung, Licht drang dort zwar hin, aber es herrschte eine ganz seltsame
Stimmung, ein ganz diffuses Licht, orange, hellgelb, weiß, und rot – feuerfarben;
dieser betörende Rosenduft passte schier überhaupt nicht zum feuchten Ambiente.
Einen Moment blieb
ich erschöpft dort liegen, als ich mit einer Hand mich zu orientieren suchte,
und beim Tasten und blinden Wühlen etwas Rostiges fühlte:
Halb versunken eine
kleine, mit Eisen besetzte Holzschatulle.
Ausgerechnet! Die
beiden anderen Genossen im Wald dem Ende womöglich recht nah...ein
verhängnisvoller Tag...Unglaubwürdig, wirst Du wohl denken...
Zitternd öffnete ich
die Truhe: Dort drinnen lagen schockierend ausgebleichte Knochen.
Knochen von dem
Bären, den ich Dir gerade aufgebunden habe.
In diesem Sinne
sendet Dir herzliche Grüsse
Dein X